Nordhessische … Chilly Gonzales: Shut up and play the Piano

Abstract

Der erste auf dem Mannheim Musik Film Festival #3 (MMFF) gesehene Film war die Dokumentation Shut up and play the Piano über den kanadischen Musiker Chilly Gonzales. Angesichts seiner Musik und des Auftretens vor der Kamera könnte man allerdings auch vom „Phänomen Chilly Gonzales“ sprechen. Für „ein Kind der 90er“ mit Hang zu unkonventioneller Musik könnte es ein teurer Film werden.

My shit smells better

Diesen Satz spricht Chilly Gonzales in einem Interview zu einer Zeit, als er anfing, auf übertriebene, aber punkige Art, den Berliner Untergrund und das europäische „Musikbiz“ umzukrempeln. Kurz zuvor hatte er sich auf der Bundespressekonferenz zum „Präsident des Berliner Untergrund“ proklamiert. „Sein Shit“, das ist Ende der 1990er, Anfang der 200er eine wilde Mischung aus Electroclash, Techno und Rap, den er zusammen mit der Künstlerin Peaches in Berlin aufführt, nachdem beide zuvor mit Mocky und Feist in der kanadischen Punkrock-Band The Shit gespielt hatten.

„Sein Shit“ sind auch äußerst extraordinäre Auftritte in der Öffentlichkeit, die den Skandal suchen: Die Bundespressekonferenz wird zur Performance, auf deren Höhepunkt sich der Künstler an ein Klavier im Foyer setzt und expressiv zu spielen beginnt. Im Film sind einige weitere solcher Auftritte im Fernsehen dokumentiert, die die „Marke Gonzales“, wie er sich damals noch nannte, prägen. Die dokumentierten Konzertmitschnitte von ihm und Peaches wirken dahingegend schon vergleichsweise „geordnet“.

Doch trotz des punkigen Auftritts und der „musikalisch rauen“ Vorgeschichte von The Shit ist die künstlerische Qualität der Musik hörbar. Im Gegensatz zu einer „Schulhof-Punkband“ sind hier Musiker zu hören, die ihre Instrumente beherrschen und texten können. Das Zusammenspiel mit anderen Musikern und -Genres ist dabei nicht immer spannungsfrei, wie man beispielsweise beim Konzert von Chilly Gonzales mit dem Radio Synphonieorchester Wien merkt: Die klassischen Musiker tun sich schwer mit dem Humor des „Punks“ am Klavier, ergänzen seine Musik aber instrumentalgewaltig zu einem runden Werk, auch wenn er kein besonders talentierter Pianist ist. Drei Solo Piano Alben zeigen allerdings, in welche Richtung sich der Künstler am Klavier entwickelt hat – und man sieht Chilly Gonzales im Film mehrfach beim Proben.

Schatten einer Blume auf dem grauen Beton einer Wand.

Musik um sein Inneres auszudrücken

Neben Aufnahmen von Gonzales' Auftritten und der Kamera als sein Begleiter beim Monolog enthält der Film auch Interviews mit Sibylle Berg, die nur wenige, aber gezielte Fragen stellt um dem Interviewpartner ganze Absätze an Information zu entlocken. So erfährt der Zuschauer u. a. von der musikalischen Rivalität der Gebrüder Beck, wobei Jason „Gonzales“ im Underground und sein Bruder Christophe mehr im Mainstream unterwegs ist.

Für den Protagonisten der Dokumentation dient Musik dazu sein Inneres auszudrücken, seine Gefühle, seinen Humor, sein „wildes Ich“ seinerzeit im Berliner Untergrund. Der Entertainer ist dabei der Meinung, dass Musik das Publikum unterhalten soll – Musik nur für sich selbst zu spielen sei Onanie, meint Gonzales, während er sich auf einem Klavier im Konzertsaal wälzt, das Publikum applaudiert und das Orchester leicht verschämt zuschaut. Doch wie seine Musik und das Interview mit Sibylle Berg zeigen, ist der Mensch und Musiker Chilly Gonzales sehr komplex, vielschichtig, schnell, aber konzentriert.

Das Motiv Musik zum Ausdruck des Inneren zu benutzen, tauchte auch in den beiden weiteren Filmen auf, die beim MMFF angeschaut worden sind: Matangi/Maya/M.I.A. und Anne Clark: I'll walk out into tomorrow.

Punk als „demokratische“ Musik

Im Interview mit Gonzales' musikalischer Weggefährtin Peaches erfährt der Zuschauer, dass Punkrock eine große Rolle in der musikalischen Entwicklung der vier Künstler von The Shit gespielt hat. Auf der Bühne in Jugendzentren und kleinen Clubs zählt die Musik und nicht die Herkunft – eine Erfahrung, die auch Anne Clark zuvor gemacht hat. In dem Moment am Instrument bzw. Mikrofon ist Punk, ist die Musik, „demokratisch“ bzw. egalitär und gibt jedem die Möglichkeit sich frei auszudrücken. Das frei ragt dabei auch über die Genre-Grenzen hinweg, so sind Punk (und Jazz als legitimer Vorgänger) „anders“.

Qualität der ersten digitalen Consumer-Kameras

Der Film enthält Filmmaterial über mehr als 20 Jahre des Wirkens von Chilly Gonzales. Vieles aus seiner Anfangszeit ist mit frühen digitalen Consumer-Kameras aufgenommen worden oder stammt mutmaßlich von Videobändern mit Mitschnitten aus dem Fernsehen. Als Zuschauer im Kino fällt dieser Qualitätsunterschied direkt auf, wenn solche zeitgenössischen Aufnahmen neben dem aktuellen Interview gezeigt werden: Die Auflösung und Pixeldichten sind im Grunde zu gering für die Leinwand, die Farbdynamiken der Kameras sind suboptimal, die Mikrofone ebenfalls.

Die Kaiserbrücke in Mainz mit Graffiti, Leuchtschnüren – und aufgenommen mit der Kamera eines LG Chocolate 800. Auch wenn die Bildqualität bescheiden ist, gibt es doch charakteristische Farbverzerrungen.

Dazu kommt das Problem der unterschiedlichen Digitalformate, worüber wir bereits beim Dokfest 2010 diskutiert haben: Der digitale Film muss in einem Format vorliegen, das der Kinoprojektor auch abspielen kann. Dass das in „volldigitalisierten Kinos“ nicht immer der Fall ist, konnte man zwei Jahre später beim dokfest sehen, als einige Filme zum Teil ruckelnd wiedergegeben wurden.

Andererseits sieht man direkt, dass das aufgenommene Material authentisch ist.

Das könnte ein teurer Film werden.

Als „Kind der 90er“ mit dem Hang zu Musik jenseits des Mainstreams, für den Freund „sperriger“ Klänge, der bislang weder von Peaches im musikalischen Sinne noch von Chilly Gonzales gehört hat(te), erweitert Shut up and play the Piano den musikalischen Horizont gewaltig und man fragt sich, wie diese Sounds an einem vorbeigezogen sein können. Sofern der „Electroclash-Punk-Rap“ noch erhältlich ist, handelt es sich dabei definitiv um eine sinnvolle Ergänzung der Musiksammlung – wo ist der nächste Plattenladen?