Nordhessische … Interkulturelles Lernen: „Große Texte von kleinen Leuten“

Interkulturelles Lernen: „Große Texte von kleinen Leuten“

Abstract

Eine Projektgruppe „Interkulturelles Lernen“ an der Kasseler Paul-Julius-von-Reuter-Schule hat sich im Rahmen einer Projektwoche 2008 mit den Lebensgeschichten von Schülern mit Migrationshintergrund beschäftigt. Die dabei entstandenen Texte und auch Plakate sind nun in Form des Buches »Große Texte von kleinen Leuten« erhältlich. Nordhessische.de-Redakteur Robert Bienert stellt dieses von den drei Lehrern der Projektgruppe herausgegebene Buch vor.

Das Buch »Große Texte von kleinen Leuten«, herausgegeben von Nihat Alkin, José del Coz und Gerald Warnke, fasst die Ergebnisse der Projektwoche 2008 „Interkultureller Dialog und Lernen“ an der Paul-Julius-von-Reuter-Schule zusammen, indem dort etliche der Schüler mit Migrationshintergrund zur Sprache kommen – was beschäftigt sie in Deutschland, wie sehen sie ihre neue Heimat, sehen sie Deutschland überhaupt als Heimat? Das vorliegende Buch enthält die Antworten der Reuter-Schüler auf diese Fragen und hilft damit auch Fragen über das interkulturelle Zusammenleben in unserer Gesellschaft zu beantworten.

Hinter der Idee für die Projektwoche steckt die Frage: „Was machen Mehmet und Ayse eigentlich, wenn sie nach Hause gehen?“ Gestellt im Kollegium der Reuter-Schule stellte man schnell fest, dass man wenig über die Lebenshintergründe der vielfältigen Schülerschaft wusste, die aus über 30 Nationen stammt. Spannend an der Ausgangsfrage ist die Tatsache, dass die Schüler definitiv „in zwei Welten“ unterwegs sind: In ihrer familiären sowie schulischen Welt. Wir werden im folgenden noch zu dem Schluss kommen, dass diese „interkulturelle Erfahrun“ eine wichtige Schlüsselqualifikation in einer globalisierten Welt darstellt, wobei die Sprache als roter Faden zur Integration dient. Wobei Integration natürlich nicht einseitig ist, sondern von beiden Parteien ausgeht.

Wie fühlen sich Migranten in Deutschland?

Interessant an den „großen Texten der kleinen Leute“ ist der „Blick von außen“ auf unsere Gesellschaft, auf die kleinen Unterschiede und das „typisch Deutsche“. Das Klischee der „ernsten und tüchtigen Teutonen“ wird dabei wieder einmal bestätigt, während andere Völker ausgelassener ihre Zeit genießen. Doch eine Diskussion darüber würde meiner Meinung nach einen eigenen Artikel erfordern. Erfahrungen mit alltäglicher Fremdenfeindlichkeit haben viele der Schüler, was ihr mögliches Heimatland unattraktiver macht (siehe unten). Mit Hilfe der „lingua franca“ deutsch (siehe auch unten) fällt es ihnen allerdings leicht, Freunde zu finden – häufig ebenfalls mit Migrationshintergrund. Weiterhin werden die Freiheiten und Möglichkeiten, die man in Deutschland hat, als sehr positiv wahrgenommen: „Man kann alles erreichen.“ Und obwohl ein Einbürgerungstest von einigen befürwortet wird, bitten sie gleichzeitig um Verständnis ihrer Situation, dem noch unsouveränen Umgang mit der Sprache oder Auftritt in der Gesellschaft.

Rückzugsmöglichkeit „Parallelgesellschaft“

Seit einiger Zeit wird häufig der Begriff der „Parallelgesellschaft“ verwendet, um unzureichende Integration der Migranten auszudrücken; es heißt dann, sie lebten in „Parallelgesellschaften“ – zwar in Deutschland, aber parallel zur „Mehrheitsgesellschaft“. Dass ein ausschließliches Leben in der Parallelgesellschaft keine Integration ist, dürfte dabei auf der Hand liegen. Allerdings darf man die Parallelgesellschaften nicht per se verteufeln, schließlich erfüllen sie die Funktion eines Rückzugsortes, der hilft, die Identität zu erhalten, wie ein Kind der ersten Gastarbeitergeneration ausführt.

Das schwierige Verhältnis junger Türkischstämmiger zu Deutschland

Interessant ist, dass auffällig viele der junge Menschen mit türkischen Wurzeln im Buch ein gespaltenes Verhältnis zur bundesrepublikanischen Gesellschaft haben: Nicht wenige geben als Ziel an, später einmal in der von ihnen als „Heimat“ bezeichneten Türkei zu arbeiten oder den Ruhestand zu verbringen. Eine mögliche Erklärung könnte in den Familienhistorien zu finden sein, denn ursprünglich war geplant, dass die Gastarbeiter nach ihrem Gastspiel wieder in ihre Heimatländer zurückgingen. So herrscht bei etlichen Eltern dieser jungen Menschen immer noch der Wunsch vor, den Ruhestand im eigenen Haus in der Türkei zu verbringen.

Andere Gründe, die genannt werden, sind neben dem mediterranen Lebensgefühl statt „deutscher Kälte“, vor allem die Vorbehalte der Mehrheitsgesellschaft, die diese Menschen immer noch viel zu oft spüren lässt, dass sie Fremde in ihrem Geburtsland sein sollen, sprich der alltägliche Rassismus in Deutschland. „Geh zurück in dein Land“ – dieser Satz klingt da wie Hohn denen gegenüber, die hier geboren sind, die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen und oftmals besser die Landessprache als diejenigen beherrschen, die solche Sätze sagen. Die Texte der jungen Türkischstämmigen lassen jedenfalls sehr stark vermuten, dass die Frage nach dem Land, in dem sie gerne leben und der Frage nach ihrer Heimat zwei unterschiedliche Antworten zu Tage fördern.

Sprache als roter Faden zur Integration

Eine große Bedeutung im Leben der jungen Migranten nimmt die Sprache ein: Während sie in ihren Familien durchaus auch als Rückzugsmöglichkeit oder Bezug zur Heimat dient, ist die Sprache des Aufenthaltslandes – in unserem Fall daher deutsch – essentiell, um Zugang zur Gesellschaft zu finden. Das Bewusstsein dafür haben alle Schüler, die im Buch zu Wort kommen, entwickelt und an Hand der sprachlichen Qualität ihrer Texte im Vergleich zur Zeit, die sie erst hier sind, ist man doch äußerst positiv über den Integrationswillen überrascht. Man muss dazu wissen, dass die Texte von den Lehrern nicht redigiert worden sind. Der Zugang zur Gesellschaft definiert sich allerdings nicht ausschließlich über das Verstehen der Amtssprache, sondern auch über die Eigenschaft einer lingua franca, die auch jeder der anderen Mitschüler spricht.

Migration als gesellschaftliche Bereicherung

Dass Migration keinen „Zusammenprall der Kulturen“ bedeutet, sondern eine gegenseitige Bereicherung darstellt, lässt sich als Fazit des Buches festhalten. Dass sich eine solche Bereicherung der Gesellschaft ergibt, liegt meiner Meinung nach in der Natur der Sache begründet, wenn man – wie es im Vorwort heißt – Integration als Schritte der Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft aufeinander zu begreift; mit anderen Worten: Integration geht von allen aus. Dass vorliegende Buch „Große Texte von kleinen Leuten … nebst Fotos und Plakaten“ kann dabei eine Hilfe sein. Mit den im ersten Kapitel zu findenden „großen Texten der kleinen Leute“ kann man sich in die Welt junger Menschen mit Migrationshintergrund hineinversetzen, während die dargestellten, erheiternden, aber auch nachdenklichen Plakate und Motive aus der Projektwoche die Bedeutung von Integration und Interkulturellem betonen.

Robert Bienert

Das Buch „Große Texte von kleinen Leuten. Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund der Paul-Julius-von-Reuter-Schule in Kassel erzählen ihre Lebensgeschichte, Kassel 2009“, herausgegeben von Alkin, Nihat/ del Coz, Jose/Warnke, Gerald kann via Email bei interkultur_reuterschule@yahoo.de für 5 € bestellt werden.