Kurzfilm-Rezensionen: Das Leben ist anderswo / Ana+Digi

Abstract

Szene aus Arnos Tonlabor von Christoph Janetzko. Foto © Christoph Janetzko, mit freundlicher Genehmigung vom Kasseler dokfest/filmladen

Am Dokfest-Samstag fand mittags der schöne Kurzfilmblock »Das Leben ist anderswo« statt. In einem weiteren Block am Vorabend wurden Werke zum Mit- und Gegeneinander von analog und digital gezeigt. Nordhessische.de-Autor hat beide Blöcke gesehen, „verdaut“ und mitdiskutiert.

Vorweg: Drei Filmvorführungen sind recht viel, vor allem wenn in einer davon ganze zehn Kurzfilme präsentiert werden, von denen fast die Hälfte auch noch sehr düster und negativ sind. Die andere Hälfte waren zum Glück teils unterhaltsam, teils sogar sehr spannend.

»Das Leben ist anderswo« – im gelobten Land?

Dieser Block am „frühen Samstag Morgen um 13:15 Uhr“ war angesichts des Spätprogramm am Abend vorher und der wohl immer gut besuchten Lounge erstaunlich gut besucht. Der erste Film »Das gelobte Land« von Lena Geller beschreibt den Umzug und das Einleben ihrer Familie in Deutschland. Während die Eltern der Regisseurin kaum Probleme haben, sich sowohl in Deutschland als auch der hiesigen russisch-jüdischen Community zu integrieren (viele jüdische Spätaussiedler wurden nach Deutschland eingeladen, um die jüdischen Gemeinden zu beleben, so der Kantor einer hannoveraner Gemeinde), wird die Distanz der Großmutter zu ihrer neuen Heimat deutlich.Sie ist in ihrem Leben nur zweimal umgezogen: Im Zweiten Weltkrieg viele tausend Kilometer nach Osten in den Ural und Anfang der 1990er viele tausend Kilometer nach Westen. Auch wenn die Eltern betonen, wie gut es die Großmutter in Deutschland habe und all ihre Freunde in Russland tot oder senil sein (erinnert durchaus an »Dinner for One«), lebt sie im Grunde ihr kleines Stück Russland in einem Plattenbau in Hannover.

In der Dokumentationen werden gut Wege zur und Stolpersteine bei der Integration in die deutsche Gesellschaft aufgezeigt. Zudem kann der Film auch mit dem Witz des Alltags punkten und zeigt insgesamt eine Runde Familie. Für die Regisseurin Lena Geller bedeutete das Filmen in ihrer Familie, mit echten, ehrlichen, unverstellten Protagonisten zu arbeiten.

Das Leben ist – in Berlin

Christine Schäfers Familienporträt »Siegi steigt aus« beschreibt ebenfalls ein Familienmitglied der jeweiligen Regisseurin: Ihr Großvater „Siegi“ beschließt nach dem Tod seiner Frau auszusteigen. Im Gegensatz zu vielen anderen, die dieses Vorhaben allerdings später nicht umsetzen oder zu weit in die Ferne schweifen steigt er innerhalb des Landes aus, vom Südhessischen nach Berlin. Der Film zeigt dabei lediglich in der Eröffnungssequenz die Ankunft in Berlin, der Rest des Films spielt noch in der alten Heimat bei der Vorbereitung des Umzugs. Der Zuschauer sieht dabei einen vitalen alten Mann, der sich trotz des aufgebauten Besitzstandes mit Haus, Hof und Katze seiner Entscheidung sehr sicher ist. Nebenbei erfährt er einiges über das Leben: Welche Pflanzen selbst auf dem Balkon gut gedeihen (Apfelblüte), dass Knöpfe-Annähen nicht schwierig ist, welche Fernsehsendungen wirklich bilden (allgemeines Wissen statt Krimi oder Abenteuerfilme) und wie man einen Umzug zielgerichtet plant.

Neben der Geschichte an sich, kann der Film vor allem mit dem Humor des Protagonisten punkten. Christine Schäfer scheint ein Faible für solche Personen zu haben, wie auch in »Alf und Sven« beim Finale zu sehen war. Der Dokumentarfilm-Liebhaber darf hoffentlich auf die nächste Werkschau der Filmklasse gespannt sein.

Das Leben ist – in Thailand

In »Wiboon und das Leben danach« von Moritz Becherer macht sich die gebürtige Thailänderin Siri auf den Weg in ihr Heimatland, um ihrem Onkel die letzte Ehre zu erweisen. Er war buddhistischer Priester und wird dem entsprechend mit einer großen Trauerfeier verabschiedet. Für Becherer war dies gar nicht so einfach, da die eigens angereiste Königsfamilie nicht gefilmt werden darf. Mit der Vorbereitung der zeremoiellen Verbrennung des Leichnams wird das Leben und Wirken des Priesters noch einmal aufgearbeitet und der Zuschauer bekommt nicht nur eine Idee von seinem Stellenwert für Siri, sondern auch für die buddhistische Gemeinde. Dabei werden tiefgreifende Fragen zum Leben im Jenseits oder einer möglichen Wiedergeburt diskutiert. Nicht-Buddhisten erhalten dabei einen guten Einblick in das spirituell-religiöse des Buddhismus.

Die Reise nach Thailand symbolisiert auch die Heimat der Protagonistin, deren dortiger Bezugspunkt ihr Onkel war, und ihre Distanz zu Deutschland. Ursprünglich betrieb sie in Kassel einen Massagesalon, der allerdings zu einer Boomzeit eröffnet wurde und die Konkurrenz daher groß war. Dazu kommen ungezählte Kunden – Perverse –   die unter einer Thai-Massage eher Thai-Mädchen verstehen. Das sind schwierige Zeiten für ihr Handwerk.

»Ana+Digi«

In diesem Kurzfilmblock durften sich die beiden Schwestern „Analog“ und „Digital“ streiten – in zehn Kurzfilmen in 100 Minuten. Die Beschreibungen zu den folgenden, teilweise merkwürdigen, teilweise (ver-) störenden, teilweise in der Erinnerung verblassten Filmen sind dem Dokfest-Katalog (PDF) zu entnehmen: »Heliocentric« von Joseph Gerhardt und Ruth Jarman, »kann nu slukke computeren« von Eva Münnich, »retro Disk chunter« von Stuart Pound sowie »me, myself and I in the age of Download« von Thomas Kutschker.

Schön anzusehen war hingegen »Arnos Tonlabor« von Christoph Janetzko, eine kurze Dokumentation über das Zusammenlöten und Testen einer Art Musikbox. Das wahre Wesen des Films kam nicht so deutlich herüber. Ivan Mirko Senjanovics »Mensch-Maschine« erzählt eine Geschichte über das Internet in der grauen Modem-Vorzeit – wie sich Wohngegenstände einwählen. »TV-TeslaVision« von Hanna Nordholt und Fritz Steingrobe dokumentiert auf spielerische Weise Nikola Teslas Vision des Fernsehens als „Gedankenspiegelung“. Diese Idee ist gar nicht so weit von der „Gedankendatei“ aus »Plug&Pray;« entfernt.

Hingegen: Gute Dokumentarfilme

Wirklich gute Dokumentationen gab es auch zu sehen, u. a. »The Delian Mode«, für den die Regisseurin Kara Blake mit dem A38-Produktionsstipendium bedacht wurde. Der Film porträtiert die britische Mathematikerin, Musikerin und Pionirin der elektronischen Musik, Delia Derbyshire und ihre Arbeit bei der BBC in den 1960er Jahren. Neben dem Setting der experimentellen Arbeit in dem Studio über einer Eishalle erfährt der Zuschauer sehr viel über die Technik dieser Technik, von der Tonerzeugung mit Frequenzgeneratoren über die Katalogisierung erzeugter Töne und dem echten Schnitt am Tonband bis hin zum Klang der Sounds. Interessant ist dabei ein Werk Derbyshires aus den 1960ern, das die Konkurrenz mit Minimal- oder Technoklängen fast 50 Jahre später locker aufnehmen kann. Während ähnliche Effekte bequem mit dem Computer erzeugt werden können, bringt der Film durch Zeitzeugen und aufgezeichnete Telefongespräche mit der mittlerweile verstorbenen Delia Derbyshire den Geist dieser Ära, der im Computer nicht mehr wohnt, gut herüber.

Ein ähnlich informativer Programmpunkt ist Luc Moullets »toujours moins« über die historische Entwicklung von Computern und Automaten sowie den Einsatz im Alltag. Wie in »Plug&Pray;« sind dabei immer auch die Tücken der Technik zu bestaunen, die allerdings den Siegeszug der Automaten letztlich kaum aufhalten können – trotz mehr als ausreichend eingestellter Solarienbräune. Nur unwesentlich länger ist »travlya« von Viktoriya Yakubova. In diesem Dokumentarfilm wird an Hand einiger Fallbeispiele das Wirken des anonymen digitalen Mobs in Internet-Foren beleuchtet. Die Quintessenz des Films, mit persönlichen Daten in der (digitalen) Öffentlichkeit sehr sparsam umzugehen, wird stark betont und gehört zwingend zur Medienkompetenz. Kein Zuschauer möchte vermutlich „aus dem Internet in sein Zuhause“ verfolgt und gestalkt werden.

Anschließende Diskussion über Qualität bei analog und digital

Auch der fachunkundigen Nordhessische.de-Autor konnte von der an »Ana+Digi« anschließenden Diskussion mit dem Produzenten von »Arnos Tonlabor« noch etwas mitnehmen: Während es die digitale Filmtechnik einfacher und günstiger mache (Filmrollen und -projektoren sind für Programmkinos deutlich teurer als digital), Filme zu drehen, dürfe allerdings nicht die Qualität (beim Arbeiten und beim Schauen – im Kino statt bei YouTube) darunter leiden. Als Beispiel nannte er so genannte Blockbuster, die nichts Aufhebenswertes sein. Wie schon bei Musik, die viele Menschen in niedriger Qualität als MP3 hörten, befürchteten die Diskutanten einen möglichen Wertigkeitsverlust von Filmen durch die digitale Produktion, Wiedergabe und Kompression.