Filmrezensionen: Wo, wie und warum lebt man?
Abstract
Mit dieser Frage lässt sich der zweite Dokfest-Tag gut beschreiben und zusammenfassen. Die Session «Home of the Free» widmete sich der US-amerikanischen und kanadischen Geschichte im Umgang mit den Ureinwohnern und afrikanischen Sklaven im Kontrast zum „Home of the Free“. Das Kurzfilmprogramm «Stadtplan: Trümmer der Zukunft» brachte dem Zuschauer die Bedeutung von Stadtplanung und -entwicklung näher. Abgeschlossen wurde der Abend mit einer teilweisen Reise ins Bewusstsein mit der Dokumentation «The Substance – Albert Hofmann's LSD». Robert Bienert hat alle drei Blöcke erlebt.
Diese Session bestand aus den beiden im Folgenden besprochenen Filmen «some of the parts: what can be named» von Deanna Bown und «Free Land» von Minda Martin. Beide Filme zeigen, dass die Versprechungen des „amerikanischen Traums“, das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, des „Home of the Free, Land of the Brave“ nicht für jeden gelten. Bowen: „It's at the same time true and not.“ Erst wurde der Lebensraum der Ureinwohner genommen und umgestaltet, die Menschen in Reservate umgesiedelt oder in Kriegen getötet, anschließend wurden mit der gleichen Selbstverständlichkeit Afrikaner als Sklaven für den wirtschaftlichen Aufschwung gehalten. Obgleich diese Basis des amerikanischen Traums rein formal mittlerweile die gleichen Rechte wie die Weißen haben, ist doch dieser blutige und menschenverachtende Teil der US-amerikanischen Geschichte bislang nicht aufgearbeitet.
Sum of the parts: what can be named
In ihrem Film trägt Deanna Bowen die recherchierte Geschichte ihrer Familie vor, von der Deportation aus Afrika bis zu ihr im 21. Jahrhundert. Die Namen und Zahlen sind ergänzt um historische Bezüge zur zeitlichen und gesellschaftlichen Einordnung des Geschehens. Die Namen ihrer Vorfahren sind dabei als Auszüge aus den Familienbüchern dargestellt, wie im Verlaufe des Films an Hand der verschiedenen Schriftarten deutlich wird – von der Handschrift bis ins 20. Jahrhundert hinein über die Schreibmaschine bis zum EDV-gestützten Personenregister. Möglich gemacht haben diesen technischen Fortschritt auch die Sklaven als äußerst billige Arbeitskräfte, doch der Dank dafür auf sich Warten. Gleiche Rechte sind das Ergebnis eines langen Kampfs, gleiche Chancen existieren hingegen immer noch nicht. Dem entsprechend herrschen unter einem Teil der Bevölkerung mit afrikanischem Hintergrund Verzweiflung, Drogenmissbrauch und Kriminalität. Als „Schwarzer“ sind die Möglichkeiten teilweise immer noch begrenzt.
Free Land
Dieser Filmtitel ist ein Wortspiel mit dem Namen eines der Verwandten der Regisseurin Minda Martin. „Free Land“ bezeichnet in den USA Grundstücke, die frei genutzt werden können. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg vergab der Staat Free Land als Dank an Kriegsveteranen, seitdem werden Soldaten mit „Free Education“ geworben. Paradox ist diese Geschichte, weil insbesondere Nachkommen der amerikanischen Ureinwohner mit Free Land geworben worden sind – Land, das ihren Vorfahren gehörte und in blutigen Claims abgenommen wurde. Ein Häuptling wird zitiert mit, „die Weißen haben uns viel versprochen, mehr als ich erinnern kann, und alle Versprechen später gebrochen, bis auf eines: Wir nehmen euer Land.“ So sind die ursprünglichen Bewohner nun die Wohnortlosen, die Nomaden.
Das Herumziehen ohne einen für längere Zeit festen Wohnort ist der rote Faden in Martins Familiengeschichte mit Cherokee-Hintergrund. Neben dem Land gaben ihre Vorfahren dem US-amerikanischen Staat ihr Leben als Soldaten oder ihre Arbeitskraft. Doch obwohl ihr Vater sein Leben lang hart gearbeitet hat, muss er sich hochbetagt als Arbeitsloser durchschlagen und hält in seien leeren Händen nur einen Teil der Familiengeschichte. Er lebte an vielen Orten, zuletzt in einem Wohnwagen und das einzige Stück Land, das er wirklich besitzt, ist das Grab seiner Frau. Doch ohne Landbesitz ist man nichts im oder auf dem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Und obwohl es vermutlich mehr als genug Free Land für die Nachkommen der Ureinwohner gäbe, begrenzt die Regierung ihre Möglichkeiten noch immer, es gibt Reservate, Verzweiflung, Drogenmissbrauch und Kriminalität.
Stadtplan: Trümmer der Zukunft
An Hand mehrerer Kurzfilmbeispiele wurde in dieser Session sehr plastisch deutlich, dass Stadtplanung, Architektur und das Häuserbauen an sich aus einem stetigen Wechsel von Bau, Nutzung und Abriss bestehen, Städte stets im Wandel sind. Am deutlichsten wird dies in den Filmen «Vortex Remixer» von Marcelo Fica Pérez, «Get Luder» von Jonathan Carr, «demo_lition» von Dorothea Carl und Claudia Reiche sowie Julie Brazils «déjeuner dans la jambe sèche».
Architektur und Modellbau – nur eine Frage des Maßstabs?
Den Einstieg erleichterte allerdings «Hurdy Gurdy» von Daniel Pfeiffer und Daniel Seideneder. Mit einem speziellen Objektiv gefilmt, sieht die Stadt aus wie auf einer Modellbahnanlage, wobei einige Teile durchaus einem Hobbykeller entsprungen sein können. Jedenfalls die Stadt aus der Vogel- bzw. genauer Modellbauerperspektive. Dass dieser Vergleich zutreffend ist, führte anschließend Armand Morins Dokumentation «Opa-locka Will Be Beautiful» eindrucksvoll vor. Die Idee der Stadt Opa-locka geht auf den Geschäftsmann Glenn Curtiss zurück, der in den 1920er Jahren in Florida sein Märchen aus dem Morgenland realisieren wollte. „Geschichten aus 1001 Nacht“ waren damals im Film sehr populär, und genau so eine Geschichte sollte diese Stadt sein. Begonnen als Sammlung von Papphäusern entsteht in Florida eine arabisch aussehende Stadt mit regelmäßigen Paraden und orientalischen Feiern. Verbunden ist damit die Utopie des Orients im Okzident, Ali Baba ohne Räuber. Wie in der Modellbahnwelt gestaltet Curtiss Stadt und Stadtgesellschaft und schafft eine Art „Disneyland“, bevor es überhaupt ein Disneyland gibt, wobei die Einwohner mit zu den Darstellern gehören. Im Laufe der Jahre verging die Stadt, dessen Schöpfer schon früh das Zeitliche segnete und die heutigen Bewohner haben mit der Utopie nicht mehr viel gemein. Ein Rapper aus Opa-locka kommentiert: „Someone took Ali Baba away and left the 40 thieves.“ (Jemand nahm Ali Baba weg und ließ die 40 Räuber zurück.)
Ebenfalls visionäre Architektur ist der Bestandteil von Sasha Pirkners «the Future will not be capitalist». Diese Dokumentation porträtiert die Zentrale der Kommunistischen Partei in Frankreich, einen avantgardistischen Bau mit viel Beton, Glas und Stahl, allerdings ohne langweilig zu werden. Organische Formen, ausgetüftelte Belichtung und der stilistische Charme der 1960er Jahre ergeben ein architektonisches Schmuckstück, das allerdings seine besten Zeiten ebenfalls schon hinter sich hat. Der Bau strahlt trotzdem immer noch eine gemütliche Atmosphäre aus, ein Ort, an dem sich vermutlich angenehm arbeiten lässt.
Einen angenehmen Ort als Traum schafft Marcelo Fica Pérez mit «Vortex Remixer». Ausgehend von einer bunten Plane am Bauzaun, die skizzenhaft die Zukunft hinter dem Bauzaun zeichnet, tauchen die zwei Charaktere des Films ein in diesen Traum und werden Teil der skizzierten Menschen. Die musikalische Untermalung passt zur zukünftigen Nutzung der entstehenden Gebäude und der Zuschauer kann zusammen mit den Protagonisten den Traum vom neuen Stadtviertel träumen, mit den skizzierten Menschen gemeinsam am Pool planschen oder einen Cocktail schlürfen. Was davon allerdings wirklich Zukunft ist und was die Trümmer, bleibt offen.
Trümmer der Zukunft
Die letzten drei Filme dieser Session, «Get Luder», «demo_lition» und «déjeuner dans la jambe sèche» widmen sich den Trümmern der Zukunft, entstanden aus den Palästen der Gegenwart. Als Gegenmodell zur modernen, zeitgeistlichen Nutzung von Architektur und Stadtplanung im Einklang der „Nachverdichtung“ bleibt dabei immer noch «the Future will not be capitalist» im Hinterkopf. «Get Luder» porträtiert den Architekten Owen Luder und gipfelt in der „Totenrede“, die der Architekt auf eines seiner Gebäude, ein Parkhaus, halten muss. Man sieht ihm an, dass er sein Kind zu Grabe tragen muss, er aber auch den Lauf der Dinge kennt. Natürlich spielt auch Melancholie eine Rolle, zumal es keinen funktionalen Grund für den Abriss gibt, sondern nur einen ästhetischen – der Beton ist durch den Regen ausgewaschen.
Eine ähnlich merkwürdige Szenerie bietet «déjeuner dans la jambe sèche». Eine Gruppe Menschen verfolgt picknickend die Sprengung eines Hochhauses. In der anschließenden Diskussion mit Julie Brazil stellt sich heraus, dass es sich dabei um eine lange geplante, verzögert gebaute, verzögert eingeweihte und verzögert eingerichtete Uniklinik handelt, die schließlich ungenutzt mit kompletter Einrichtung wieder dem Erdboden gleich gemacht wird. Auf dem Campus verfolgt eine größere Menschenmenge die Sprengung als Happening. Nach einer 135-jährigen Planungszeit und einem ersten Baubeginn 1920, der ein Jahr später schon wieder abgebrochen wurde, war wohl der weg als „Trümmer der Zukunft“ schon vorgesehen – wie wohl auch beim angeblich bereits geplanten Nachfolgebau. Kleine Randanekdote: Der Film ist 3:14.16 lang, weil das Gebäude in Form des griechischen Buchstabens und der Zahl π = 3,14159…
Wie Architektur dem Zeitgeist und der Mode unterworfen ist, zeigt «demo_lition», ein Visualisierung des kommerziellen Aspekts von Städtebau. Da werden jahrzehntelange Zuhause von Menschen abgerissen um Platz für neue, stromlinienförmige Szeneviertel oder Bürotürme zu schaffen, der einzelne Mieter entwurzelt für die Rendite von Immobiliengesellschaften. Ein Investor betitelt diesen Prozess mit „Nachverdichtung“, was bedeutet, mehr an Fläche und Mietertrag aus vorhandenem Boden herauszuholen. In der Soziologie wird dieser Prozess als Gentrifizierung beschrieben – eine neue Form des „Landadels“, der Dank finanzieller Potenz seine Immobilien als „Land“ verwaltet und vermehrt. Eine Szene des Films war besonders eindrucksvoll: Mehrere Bagger und Betonscheren nagen an einem Haus und transportieren den Schutt ab, dazwischen steht ein Mensch, der den Betonstaub mit Wasser bindet. Doch im Auge des Betrachters erscheint ein zwar chancenloser, aber unentdeckter Mensch, zwischen gefräßigen Dinosauriern stehend. Einige der Saurier, die Betonscheren, reißen ihre Nahrung aus dem fallenden Haus, die anderen, Bagger, fressen das Aas vom Boden. Ein beeindruckendes Bild.
The Substance – Albert Hofmann's LSD
Den Abschluss des Tages über Fragen nach dem Wie und Wo machte das Warum mit der spannenden Dokumentation über die Entdeckung des schweizer Chemikers Albert Hofmann, das Lysergsäurediäthylamid und ihren Werdegang, vom therapeutischen Forschungsobjekt zu seinem „Sorgenkind“, wie es Hofmann später beschreiben wird. Die Wirkung des Stoffes spürt er durch Zufall auf, nachdem er nach dem Kontakt mit der Substanz ein psychedelisch-halluzigenes Erlebnis hat. In einem Selbstversuch geht er der Wirkung „der Substanz“ nach und findet heraus, dass LSD ein ausgesprochen starker Wirkstoff ist, weil er direkt die für die menschlichen Sinneseindrücke und damit das Bewusstsein verantwortlichen Rezeptoren beeinflusst. Schnell wird Hofmann und seinem Arbeitgeber Sandoz die mögliche Anwendung in der psychiatrischen Therapie klar und es starten vielfältige Experimente, teilweise mit deutlicher Besserung des Patienten. Ergebnis eines LSD-Trips ist nach Aussage von Stanislav Grof dabei die Loslösung des Bewusstseins vom Körper. Damit sei die Behandlung von Depressionen bei Totkranken erfolgreich möglich, weil ihnen klar wird, dass mit dem Tod nur der Körper stirbt. Ob es in der Zukunft wieder zu größeren klinischen Studien hierzu kommt, bleibt gegen Ende des Films allerdings offen.
Die offenen Experimente, das Peer Review, lockt dabei im Kalten Krieg Geheimdienste und Militärs auf der Suche nach Kampfstoffen und Gehirnwäsche, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und während des Vietnamkriegs lockt LSD Menschen auf der Suche nach Spiritualität. Dazu passt die chemische Verwandtschaft der Substanz mit Psilocybin, einem Wirkstoff, der aus „magischen Pilzen“ mexikanischer Ureinwohner gewonnen und zu spirituellen Sitzungen verwendet wird. Doch während Hofmann, Grof und andere den verantwortungsvollen, rein medizinischen Umgang LSD mahnen, ermöglichen die Merry Pranksters und der Psychologe Timothy Leary mit ihrem Propagieren der Selbsterfahrung und des Happenings erst den Aufstieg von LSD zur Modedroge und dann zum Verbot. Auf Grund der starken Wirkung kann ein bedenkenloser Konsum schnell zum Horrortrip werden und die Ärzte während der Hippieära müssen Etliche behandeln.
Zudem lässt der Film vermuten, dass die zum Verbot führende Ablehnung auch auf den gesellschaftlichen Aspekt der Bewusstseinserweiterung zurückzuführen ist. Die Substanz schwächt nämlich nicht nur die Kampfkraft von Soldaten, sondern führt das Hamsterrad der industriellen Gesellschaft vor Augen. Eine ganze Generation junger Menschen, die auf diese Weise den „amerikanischen Traum“ und Lebensstil ablehnen, wäre wohl auch zu viel gewesen. So aber ging LSD in der Hippiekultur selbst den Weg eines Rauschs, vom angenehmen, sanften Einstieg über den Rausch zum totalen Kater. Die Stärke der Dokumentation ist es, neben der wissenschaftlichen Geschichte auch diesen Rausch darzustellen, ohne die Substanz zu glorifizieren oder dämonisieren. Stattdessen sieht man einen intelligenten alten Mann und sein Sorgenkind bei der Suche nach sich selbst.