Nordhessische … Dokfest-Blog: Der letzte Film hat's 'rausgerissen

Dokfest-Blog: Der letzte Film hat's 'rausgerissen

Abstract

Das Programm im Bali am Samstag Abend klang viel versprechend – «Der Film liegt auf der Straße» und «Die Welt des Nichtfassbaren» – allerdings wurde der Filmlaie mit einigen Kurzfilmen konfrontiert, die wohl eher auf einer Filmtheoretischen Straße liegen und daher für ihn nicht fassbar waren. Doch glücklicherweise wurde der Zuschauer jeweils mit dem letzten Film für sein Ausharren im Kinosessel belohnt. Daneben hat der im Kino ausharrende Robert Bienert noch ein Beispiel für eine zweite Sicht (siehe Freitagsprogramm) gefunden.

Wer sich mit Dokumentarfilmen beschäftigt, weiß um die Wahrheit dieser Aussage, oder frei nach Sönke Wortmann in einem Werbespot für die Deutsche Bahn: „weil da die besten Filme laufen.“ Dem entsprechend erwartete der Filmlaie lustige und überraschende Banalitäten, die mit der Kamera eingefangen werden. Doch wirklich fündig wurde er nur bei «avodat nemalim» von Yael Bedarshi, «Real Snow White» von Pilvi Takala und «Eigenbrand» von Jan Buchholz. Die letzten beiden genannten Filme waren auch die letzten Filme dieses Screenings und rissen den Eindruck noch einmal deutlich nach oben, neben Yael Bedarshis spannende Geschichte über Ameisen, die bizarre Muster in die Etiketten von Cola-Light-Flaschen fressen. Alexander Gutkes Sammlung «Cine-Scope» von den Streifen und Kratzern auf Filmmaterial sorgte ebenfalls, allerdings unfreiwillig, für Erheiterung im Publikum.

Ebenfalls Experimente beschreiben die anderen beiden Filme und liefern damit noch einmal etwas für Zwerchfell und Gehirn. Das „echte Schneeweißchen“ stellt die Frage nach Authentizität und Deutungshoheit von Märchen, indem eine so verkleidete Frau versucht, Disneyland Paris besuchen zu dürfen, schließlich allerdings vom Sicherheitspersonal dazu gedrängt wird, sich aus- bzw. umzuziehen, damit „die Kinder sie nicht mit dem echten Schneeweißchen“ verwechseln. Denn im Disneyland „dürfen sich Kinder verkleiden, aber keine Erwachsenen“. Besser kann Realsatire kaum sein und vermutlich hätte nicht viel gefehlt, dass sich die Darstellerin vor den entsetzten Augen der Sicherheitsleute umgezogen hätte.

Ähnlich humoristisch ist die Recherche über einen selbst gemachten („Eigenbrand“) Film, den der Großvater des Regisseurs seinerzeit über einen Schrottplatz im Ruhrgebiet gedreht hat. Zu solch einer Reportage braucht der Schweizer nur eines (vermutlich neben seinem Sackmesser): Einen Fahrer. Die Dialoge während der Fahrt und der Spurensuche vor Ort reichen an Skurrilität fast an das Niveau des Kultfilms «Blues Brothers» heran. Ebenso unfreiwillig komisch sind die Gespräche mit den Menschen im Ruhrgebiet, um die Historie des Schrottplatzes und dem Motiv für den Film des Großvaters auf den Grund zu gehen. Nebenbei und eher zufällig ergibt sich dann noch Kontakt zu den zwei bekannten Experimentalfilmern Werner Nekes und Dore O – und das alles im Schatten des Bismarckturms in Mühlheim an der Ruhr. Zum Schluss des Films sieht man allerdings, dass Jan Buchholz und sein Fahrer nicht mit einem „Bullenauto mit Bullenmotor, Bullenstoßdämpfer und Bullenzigarettenanzünder“ unterwegs sind.

Die Welt des Nichtfassbaren

Zur Geisterstunde wurde im Katalog eine solche versprochen, doch erst einmal hatte wohl der Technikgeist seine Finger im Spiel, so dass dieses Screening über eine halbe Stunde später anfing und bis nach zwei Uhr dauerte. Wirklich unfassbar waren allerdings nur «tak to jest» von Zuzanna Solakiewicz – eine kurze Dokumentation über Geister in einem polnischen Dorf – «The Encounter» von Nicholas Pye und als krönender Abschluss Helge Brummes «Utz Ess und etwas von dem er noch nicht weiß was es ist». In «The Encounter» werden scheinbar von unsichtbare Hand Wassergläser auf einem Tisch verschoben, ausgetrunken und wieder aufgefüllt. Mehr ist leider auf Grund der Uhrzeit und der leider wirklich kaum fassbaren anderen Filme im Gedächtnis geblieben.

Sehr gut im Gedächtnis ist allerdings der unfassbar komische Dokumentarfilm über den Künstler Utz Ess geblieben. Er ist überzeugter Erfinder waghalsiger und äußerst skurriler Experimente, die er allerdings (noch) nicht erklären kann, dabei allerdings allerhand Worte und Worthülsen verliert. Der Mann wäre eigentlich der geborene Redenschreiber für Politiker. Bei einem seiner Experimente versucht er, ein „zusätzliches Bewusstsein“, das sich rechts oberhalb des Kopfes befindet, seines Mitbewohners einzufangen, indem er auf dem Hausdach mit einer Kiste und einem Böller hantiert. Nachdem dieses „Bewusstsein“ in der Kiste eingefangen ist, setzt sich Utz Ess schnell darauf, denn „es kann aus den Griffschlitzen an der Seite nicht heraus.“ Ähnlich unfassbar komisch ist seine Sammlung an „Luftpolsterindividuen“ oder ein handwerklich gefertigter Haken, an dem nun zwecks Nützlichkeit ein Etagenbett montiert ist. Dieser Haken braucht nun einmal eine Bestimmung. An Komik gewinnt die ganze Dokumentation noch dadurch, wie der Künstler mit trockener und sehr ernster Miene das Nichtfassbare lang und breit erklärt, während sich der Zuschauer vor Lachen im Kinosessel rollt. Mit der gleich trockenen Miene diskutierte anschließend Helge Brumme mit den noch nicht eingeschlafenen Gästen im Bali – dieser Film war das Wachbleiben schließlich wenigstens wert.

Eine zweite Sicht auf «Vaterlandsliebe»

Dieser Film von Nico Sommer polarisierte nicht nur im Kinosaal selbst bei der anschließenden Diskussion, sondern auch beim anschließend darüber schreibenden Publikum. Bei Twitter kommentiert auch ein anderer Zuschauer den Film. Gänzlich anderer Meinung ist hingegen die Filmbewertungsstelle Wiesbaden, die dem Film das Prädikat „besonders wertvoll“ verliehen hat. In der Begründung heißt es, dass die Auszeichnung insbesondere deshalb erfolgte, weil der Film „für viel Meinungsstreit, vielleicht auch für einige Missverständnisse sorge“ und „die aufgeworfenen Fragen eine intensive Auseinandersetzung wert“ seien. Es wäre nur schön, würde man diese „intensive Auseinandersetzung“ im Film und beim Regisseur entdecken können.