Nordhessische … Kommentar: Die SPD ist systemrelevant

Kommentar: Die SPD ist systemrelevant

Abstract

Der Wahlkampf ist bekanntlich nicht die Stunde der Besonnenheit, sondern des abgrundtiefen Populismus. Doch während eigentlich das Gewinnen von Wählerstimmen Hauptanliegen des Wahlkampfes sein soll, schafft es die ehemalige Volkspartei SPD, nun auch die junge, technikaffine und damit fortschrittliche Generation komplett zu verlieren. Dabei steht meiner Meinung nach der Niedergang des Parlamentarismus auch im Zusammenhang mit dem Niedergang der ehemaligen „Fortschrittspartei“.

Im populistischen Wettstreit mit der Union über die Internetzensur konnten die ehemaligen „Sozialdemokraten“ nur verlieren, aber dass sie sich so leicht so absurden Lügen, Inkompetenz und Aktionismus unterordnen, ist schon erstaunlich. Nachdem die SPD bei ihrem Parteitag die Debatte um Internetzensur „bewusst verschlafen“ hat, titelte die Union sinnentleert:

Unter Berufung auf eine angebliche Internetzensur durch den Staat wollten die Linksaußen in der SPD durchsetzen, dass das Internet zum rechtsfreien Raum wird. Die SPD wäre dadurch Gefahr gelaufen, Straftaten im Internet Vorschub zu leisten, von der Vergewaltigung und Erniedrigung kleiner Kinder bis hin zu Urheberrechtsverletzungen in breitestem Ausmaß gegenüber Künstlern und Kreativen.

[…]

Dabei machen wir – gerade als Medienpolitiker – ganz klar: Zugangssperren im Internet müssen und werden einzig und allein auf kinderpornographische Seiten beschränkt bleiben.

Das ist glatt gelogen und widersprüchlich: Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, Straftaten werden auch dort verfolgt, wenn man den Ermittlern Personal und Mittel in die Hand gäbe. Zudem muss die Frage gestellt werden, was Ursula von der Leyen in den bisherigen drei Jahren ihrer Amtszeit für den Kinderschutz getan hat und wie sie mit einer Zensur des Internets Kinder schützen will. Jörg Tauss von der SPD, der sich mit oben verlinktem offenen Brief an seine Genossen wendet, weiß selbst sehr gut, dass Kinderpornografie andere Vertriebskanäle als das Internet hat. Wird eine Straftat verhindert, indem man sie mit einem Vorhang verhängt? Zudem spielt die Ausweitung auf andere Inhalte durchaus eine Rolle, wie man in obiger Pressemitteilung deutlich erkennen kann. Aber die Arbeitsteilung ist klar: Die Union kann von der Leyen als strahlende Siegerin präsentieren und schleift die SPD hinter sich her durch die Manege.

„Büchse der Pandora geöffnet“

Mit dem jetzigen „Kompromiss“ zwischen den beiden ehemaligen Volksparteien wird die Büchse der Pandora geöffnet und eine Zensurinfrastruktur im Internet, dem meiner Meinung nach demokratischsten Medium, installiert. Die Erfahrungen der letzten Jahre – und auch da hat die SPD kräftig mitgemischt – zeigen, dass bestehende Einschränkungen der Freiheit im Namen der Bekämpfung „abstrakter Gefahren“ gerne schnell ausgeweitet werden. Auch wenn die Verwendung der Maut-Daten oder der „Otto-Katalog“ von Schily eine eindeutige Sprache sprechen – wer hätte so klar gedacht, dass die SPD die Partei der Repression, der Freiheitsbeschränkung, des Eingriffs in Bürger- und Grundrechte ist? Manche mögen jetzt einwenden: Tradition verpflichtet, seit dem 15. Januar 1919.

Die Krise der parlamentarischen Demokratie und die Krise der SPD

Ich spreche hier bewusst von der Krise der SPD, weil ich glaube, dass sozialdemokratischen Denken und Handeln auch weiterhin bei den Menschen vorhanden, nur nicht mehr mit der SPD verbunden sind. Und das ist genau der Knackpunkt an „den Sozen“: Sie machen Politik gegen das Volk, gegen ihren eigenen Nachwuchs (Umgang mit den Themen „Internetsperren“ und „Vermögenssteuer“ beim Parteitag am Sonntag) – und wundern sich, dass sie keiner mehr wählt, dass sich vor allem die „junge Generation“ von ihr abwendet. Es liegt nicht daran, dass die Inhalte falsch vermittelt werden oder am Wahlsonntag die Sonne scheint, es liegt an den Inhalten und den Köpfen, die sie vertreten. Eine Partei, die sich als Fortschrittspartei versteht, darf Kritik einer fortschrittlichen Generation nicht ignorieren, alles Andere ist Etikettenschwindel. Aus dieser Generation haben sich innerhalb von acht Wochen 134.014 Menschen gemeldet und eine Petition unterzeichnet – das ist damit die bislang erfolgreichste Petition, mit so vielen Unterstützern wie Linke und FDP gemeinsam an Mitgliedern haben.

Daneben gibt es noch viele weitere Stichworte (Jugoslawien, Afghanistan, Murat Kurnaz, Agenda 2010, Hartz IV, BKA-Gesetz, Vorratsdatenspeicherung, vereinfachtes Abmahnrecht, Eiertanz Vermögenssteuer, …), mit denen man die SPD in Zusammenhang bringen kann. Ich vermute, dass ein großer Teil der in den letzten Jahren deutlich anwachsenden Nichtwählern in ihrem Herzen Sozialdemokraten sind, sich aber von der so genannten Partei nicht mehr vertreten fühlen. Politische Ohnmacht, wie oben geschildert oder im Falle der hässlichen Studiengebühren 2006, führt zum Abwenden des Wählers, in Einzelfällen auch die Wahl von Protestparteien. Wenn sich die SPD wieder auf die Sozialdemokratie besinnt und diese glaubwürdig vertritt, nicht mehr gegen die Basis und das Volk regiert, die jüngeren Generationen ins Boot holt, hat sie eine Chance. Aber so ist die Krise der SPD auch ein Teil der Krise des Parlamentarismus.

Robert Bienert