Nordhessen auf der Schiene: Historie, Zukunft und Politik [Update]
Abstract
Kassel (rb) – Am vergangenen Donnerstag fand im vhs-Saal in Kassel die Informations- und Diskussionsveranstaltung „Nordhessen auf der Schiene“ statt. Eingeladen hatte die Volkshochschule Kassel (vhs) sowie die Aktionsgemeinschaft Verkehr Nordhessen (AVN). Neben Vorträgen zur Historie der so genannten „Mitte-Deutschland-Verbindung“ über Kassel sowie über den Bundesverkehrswegeplan fand auch eine Diskussion mit Direktkandidaten für die Bundestagswahl statt.
Den Auftakt der Veranstaltung machte ein Vortrag von Dr. Klaus-Peter Lorenz zur Geschichte der so genannten „Mitte-Deutschland-Verbindung(en)“ vom Ruhrgebiet über Kassel nach Thüringen. Neben der momentan wieder diskutierten Bahnstrecke durch das Sauerland haben sich historisch zuerst Ost-West-Verbindungen durch die norddeutsche Tiefebene und über Hannover auf Grund der einfacheren Topografie etabliert. In der Weimarer Republik waren es auch diese Strecken, die vorrangig ausgebaut wurden. Die mehreren seit 1914 existierenden Verbindungen zwischen dem Sauerland bzw. Ruhrgebiet und Leipzig sowie Berlin über Kassel waren im Bahnverkehr hingegen nur von nationaler Bedeutung. Als Problem in der Streckenführung erwies sich damals schon die so genannte „Hümmer Kurve“.
Während der deutsch-deutschen Teilung war – bis auf einige wenige Interzonen-Verbindungen – der Fernverkehr von Ost nach West und umgekehrt unterbrochen. Nach der Wiedervereinigung wurden diese Lücken größtenteils wieder geschlossen: Sowohl im Westfälischen als auch in Ostdeutschland wurden Bahnstrecken für höhere Geschwindigkeiten ausgebaut. Die Hümmer Kurve verschwand allerdings aus dem Bundesverkehrswegeplan. Dabei war noch Jahre zuvor die bereits existierende Bahnstrecke vom Ruhrgebiet nach Kassel und dann Richtung Frankfurt als Alternative zur Schnellfahrstrecke Köln—Frankfurt durch den Westerwald mit seinen Steigungen diskutiert worden. Resultat: Die „schnelle Verbindung“ in der Bahnauskunft weist in Ost-West-Richtung häufig den teuren Umweg über Hannover oder Frankfurt aus.
Bundesverkehrswegeplan – So wird Infrastruktur geplant
Dr. Axel Friedrich referierte über den immer noch gültigen Bundesverkehrswegeplan 2003. Ziel solcher Pläne ist die gesamtwirtschaftliche Nutzen- bzw. Wohlfahrtsmaximierung, d.h. Verkehrsinfrastruktur soll nachhaltig und umweltgerecht sein, aber auch der Stärkung des Wirtschaftsstandorts dienen und einen fairen Wettbewerb der Verkehrsmittel ermöglichen. Problematisch sind dabei aus Friedrichs Sicht nicht nur der Wettbewerb (Trassenpreise auf der Schiene konkurrieren mit freien Autobahnen), sondern hauptsächlich die monetäre Quantifizierung der durch den Bau hervorgerufenen Umweltschäden. Seiner Ansicht nach stecke dahinter „keine Methodik“.
„Paradoxien der Wohlfahrtsmaximierung“
Nach der Theorie der „konstanten Reisezeit“ führen neue oder ausgebaute Verkehrsverbindungen nicht zu kürzeren Reisezeiten der Menschen, sondern zu längeren Reisewegen: Mit höheren Streckengeschwindigkeiten könnten längere Strecken von mehr Reisenden und Gütern befahren werden, was zu Wohlstandseffekten führt. Das dadurch entstehende mehr an Verkehr bezeichnet die Verkehrsforschung als „induzierten Verkehr“.
Nach Friedrichs Meinung ebenfalls „paradox“ ist die Tatsache, dass zwar bis 2050 eine 80%ige Reduzierung von Klimagasen notwendig sei, aktuelle Straßenbauprojekte allerdings auf Zeitspannen von 100 Jahren angelegt sein. Das Klima müsste daher einen größeren Stellenwert in der Berechnung der Gesamtkosten einer Strecke bekommen. Zum Havelausbau befragt, habe Friedrich seinerzeit geantwortet: „Das können sie machen, aber in 30 Jahren gibt in Brandenburg keinen Niederschlag mehr“ – klimabedingt.
Nicht berücksichtigt würden weiterhin Effekte wie die Zersiedelung der Landschaft, Zerschneidungen von Landschaftszügen und Tierwegen sowie der Verlust an Wildtieren durch Verkehrsunfälle. Offiziell werden jährlich 200.000 Wildtiere auf den Straßen getötet – Schätzungen von Jagdverbänden gehen allerdings von bis zu einer Million aus. Friedrichs Fazit lautet daher, dass eine Renaturierung nötig ist, statt neuer Verkehrsprojekte, um unzerschnitte Landschaften zu erhalten.
Ausbau der Mitte-Deutschland-Verbindung: Das meinen unsere Politiker
Norbert Domes (Die Linke) fand es schwierig, nach dem vorherigen Vortrag von Dr. Axel Friedrich, etwas über den Ausbau der Mitte-Deutschland-Verbindung zu sagen, da Ausbau auch mehr Verkehr bedeute, und das „kommt uns teuer zu stehen“, so der Politiker. Weiterhin wies er auf das Maximum der Ölförderung („Peak Oil“) hin, womit Erdöl zum Spekulationsgut werde. Seine Folgerung lautet daher, „man muss sofort umsteuern“ in Richtung Schiene – am Besten koordiniert auf europäischer Ebene.
Mechthild Dyckmans (FDP) betonte mehrfach, keine Verkehrsexpertin zu sein, interessiere sich aber auf Grund der Bürger in ihrem Wahlkreis auch für relevante Verkehrsprojekte. Um an Informationen zur Zukunft der Mitte-Deutschland-Verbindung zu gelangen, habe sie einen „Kampf durch die Instanzen“ der Bahn AG und in der (schwarz-gelben) Landespolitik hinter sich. Sie hält die schnelle Bahnverbindung vom Ruhrgebiet über Kassel nach Thüringen für unverzichtbar: „Ein ICE pro Tag, da waren wir vor dem 1. Weltkrieg – zurück in die Steinzeit“, in Anlehnung an Dr. Klaus-Peter Lorenz' Vortrag. Sie meint, dass zwar möglichst viel Verkehr auf die Schiene verlagert werden solle, aber nicht alles möglich sei.
Nicole Maisch (Grüne) positionierte sich pro Mitte-Deutschland-Verbindung, drückte aber ihre Unzufriedenheit mit der momentanen Verkehrsplanung in Deutschland aus: Man brauche „einen Bundesmobilitätsplan statt eines Bundesautoverkehrsplans“. Externe Umweltzerstörungskosten müssten in die – von ihr geforderten bundesweiten – Planungen internalisiert werden. „Ausbau statt Erhalt“ macht angesichts vieler sanierungsbedürftiger Brücken ihrer Meinung nach keinen Sinn. Zudem würden in der Verkehrsplanung weder Peak Oil noch der demografische Wandel berücksichtigt. Bürgerbeteiligung sei daher sinnvoll, wie es beim Autobahnbau in Nordhessen zwischen dem BUND und dem Bund zelebriert wurde.
Ulrich Meßmer (SPD) bezeichnete sich ebenfalls nicht als Verkehrsexperten, aber als mit der Bahnanbindung Nordhessen konfrontierten Kunden: „Von Kassel nach Düsseldorf geht nicht mit dem Zug an einem Tag.“ Er sieht bei der Bahn einen Widerspruch zwischen der volkswirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Planung, doch letztlich werde dort, „wie bei jedem Unternehmen ohne die volkswirtschaftlichen Kosten kalkuliert.“ Die Politik müsse daher eingreifen. Konkret wünscht er sich eine bessere Vernetzung zwischen dem Hochgeschwindigkeits- und dem Regionalverkehr sowie einen Erhalt bzw. Ausbau der Schiene.
Von der CDU ist nur das Bild einer Autobahn mit dem Slogan „Deutschland braucht eine moderne Verkehrsinfrastruktur“ bekannt.
Ausrichtung der Bahn: Zwei Insider erklären
In der anschließenden Diskussion klärten zwei Diskussionsteilnehmer aus dem Bahnumfeld über die wirtschaftliche Ausrichtung der Bahn und die Folgen auf: Mit dem am 27. Dezember 1993 verabschiedeten und nur vier Tage später in Kraft getretenen Eisenbahnneuordnungsgesetz (ENeuOG) „wurde die Weiche von der volks- auf die betriebswirtschaftliche Schiene gestellt“, so ein aktiver Bahner. Ein Mitglied der Gewerkschaft Transnet unterstreicht dies mit dem Hinweis, dass auf Grund der aktuellen Wirtschaftskrise ein Drittel des Personals im Bahn-Güterverkehr zur Disposition stünden – ein gigantischer „Rückzug aus der Fläche droht“.
Schlussstatements: Infrastrukturpolitik für Nordhessen in Berlin?
In einer abschließenden Runde stellten die vier anwesenden Direktkandidaten für den Bundestag noch einmal kurz vor, was für eine Infrastrukturpolitik für Nordhessen sie in Berlin umsetzen würden:
Norbert Domes (seltener Bahnfahrer) möchte sich „von der Kasseler Bühne aus Einmischen, realistisch geschätzt“ und hofft daher auf eine starke Linke, die für eine größere Gemeinwohlorientierung streite. Mechthild Dyckmans (fährt gerne Bahn) sichert zu, sich wie auch bisher für die Interessen des Wahlkreises einzusetzen. Nicole Maisch (ebenfalls Bahnfahrerin) betont die Wichtigkeit einer Verkehrswende und wolle im Verbraucherschutz-Resort für die Fahrgastrechte eintreten. Ulrich Meßmer will sich „für ein ähnliches Angebot wie den InterRegio stark machen“, hat als IG-Metaller allerdings auch den Individualverkehr im Blick.
Veranstalter Klaus Schotte stellt die Schlussfrage, an die Gäste der Veranstaltung, wie sie sich in der Infrastrukturpolitik einmischen könnten. Auch weist er darauf hin, dass Friedrichs Vortrag über den Bundesverkehrswegeplan beim AVN erhältlich sei (siehe Link).