Nordhessische … Made in Germany

Abstract

Das katastrophale Versagen beim Starkregen-Hochwasser letzte Woche in der Eifel und im Bergischen Land ist Made in Germany – wie auch schon der Umgang mit der Covid-19-Pandemie. Wieder einmal werden ernsthafte und seriöse Warnungen ignoriert oder versanden in der Bürokratie. Man hat es sich in der sicheren Postmoderne bequem gemacht und möchte bitte nicht durch Unwägbarkeiten gestört werden, wie es scheint – vor allem nicht, wenn die Vorsorge Geld kostet.

Eine Katastrophe …

… mit Ansage

Noch während die Gemeinden an der Ahr oder Städte wie Hagen und Wuppertal unter Wasser standen, sich eine Kiesgrube in Erftstadt selbstständig vergrößert hat, melden sich aufmerksame Beobachter zu Wort: Der Twitternutzer @deichgenosse weist darauf hin, dass die Behörden in den Hochwassergebieten bereits eine Woche im Voraus vor dem Unwetter gewarnt worden sind, 24 Stunden vor der Katastrophe mit einer Trefferquote von ca. 90 Prozent. Diese Aussage wird unterstützt von einer meteorologischen Chronologie des Wetterdienstes Kachelmannwetter. Auch The Sunday Times zeigt sich überrascht von der deutschen Überraschung – zumal es nach Aussage des Twitternutzers @narkosedoc konkrete Warnungen zwei Tage vorher per Warn-App gegeben hat. Es ist allerdings darauf verzichtet worden präventiv zu agieren, Krisenstäbe einzurichten und vorsorglich Evakuierungen durchzuführen – es schien ja die Sonne. Das erinnert fatal an die „Ministerpräsidentenrunde“ aus den 16 Ministerpräsidenten der Bundesländer mit dem Bundeskanzleramt, in der einige der Landesfürsten erst einmal sehen wollten, ob sich die Pandemie tatsächlich so entwickelt wie von Virologen hervorgesagt.

… bzw. ohne Ansage

Es ist oben bereits die Frage aufgekommen, wieso und an welcher Stelle die Warnungen vor der extremen Wetterlage „verloren gegangen sind“. Von Seiten des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) heißt es, dass die bundesweiten Warnsysteme funktioniert hätten. Dementsprechend hätte der Rundfunk sein Programm für die Warnungen unterbrechen müssen – warum ist das nicht geschehen?. Auf diese Frage gibt es bis heute keine zufriedenstellende Antwort – so wie auch anscheinend unbekannt ist, wann wovor und womit gewarnt worden sein könnte.

Eine Woche nach dem verheerenden Hochwasser in der Eifel und im Bergischen Land auf Grund von Starkregen gibt in anderen Landesteilen auch noch Hochwasser: Die Kreisstraße zwischen Altlußheim und Rheinhausen stand diese Woche noch teilweise unter Wasser. Links hinter den Bäumen ist der Rheindeich, in Bildmitte im Hintergrund eine Kiesgrube.

„Deutsche Wertarbeit“

Kompetenz

Bereits Anfang März wurde die Frage nach der heutigen Bedeutung von Made in Germany gestellt:

Made in Germany wird oft mit deutscher Wertarbeit assoziiert, man ist stolz auf seine vielen Hidden Champions im Mittelstand, betont Werte und Tugenden wie Fleiß, Ordnung und Pünktlichkeit. Doch nicht erst seit der Covid-19-Pandemie stellt sich die Frage, wie viel eigentlich noch von diesen Werten übrig geblieben ist? Und kann es sein, dass die Antwort auf diese Frage auch erklärt, warum wir weder die Pandemie noch die dadurch ausgelöste Wirtschaftskrise im Griff haben?

Und weiter dort im Abschnitt „Deutsche Wertarbeit“ und „Tugenden“:

  • Man scheint sich aus Rücksicht auf Teile der Bevölkerung, der Wirtschaft, … oder aus Ungläubigkeit gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen und Ratschlägen nicht zu trauen nachhaltige Maßnahmen umzusetzen, sondern auf einen vermeintlichen „Kuschel-Lockdown“ zu setzen.
  • Die Logistik zur Pandemiebekämpfung – Beschaffung und Verteilung von medizinischen Masken für vulnerable Bevölkerungsgruppen, Beschaffung und Einsatz von Impfstoffen, Kontaktnachverfolgung zur Erkennung von Infektionsclustern – ist vollkommen unzureichend. Man stolpert selbst über die Ordnung des 20. Jahrhunderts und seine eigenen bürokratischen Hürden. Statt eine Fehlerkultur zu leben und daraus lernend Abhilfe zu schaffen, wird die Schuld weitergereicht, Hauptsache, man muss seine eigenen Prozesse nicht hinterfragen und ändern.

[…]

Und klassische Zukunftsthemen fallen uns jetzt in der Pandemie auf die Füße: Digitalisierung, Bildung, Umgang mit Wissenschaft, (Grundlagen-) Forschung und Entwicklung, Infrastruktur, … Auch wenn es bislang günstiger erschien diese Themen auszusitzen, Geld zu sparen und es sich bequem zu machen, tritt gerade jetzt offen zu Tage, wie teuer und disruptiv es später wird den Laden wieder in Ordnung zu bringen.

Oder um es mit den Worten des Kabarettisten Florian Schroeder auf den Punkt zu bringen:

Wir sind die technisch wohl am weitesten entwickelte Gesellschaft, die wahrscheinlich kein Zeitalter vor uns je für möglich gehalten hätte. Und dann kommt eine Naturkatastrophe, minutiös vorausberechnet - und wir?
Wissen alles und verhindern nichts.

Diese Sätze beschreiben auch sehr gut unseren Umgang mit der Pandemie – betrachtet man diese als „Naturkatastrophe“ kann man Schroeders Formulierung 1:1 übernehmen.

Risikokompetenz

Ein Artikel von Golem.de weist auf noch ein weiteres Problem hin: Im sicheren Deutschland ist man natürliche Gefahren womöglich nicht mehr gewohnt, weil sie so selten, ausgestorben oder ausgerottet sind. Die Risikokompetenz ist mangelhaft, wie es im Artikel heißt. Das betrifft nicht nur die Menschen, die in Gefahr geraten, sondern auch diejenigen, die warnen: Warnmeldungen müssen einfach und verständlich sein.

Insofern kann Reisen in Gegenden mit präsenteren Gefahren die Sinne und die Risikokompetenz schulen: In Australien bspw. leben die giftigsten Tiere der Erde – zudem noch potenziell sehr gefährliche Tiere wie Krokodile, Haie, boxende Kängurus oder Warane. Jeder Reiseführer warnt entsprechend davor und wenn man sich an die Warnhinweise hält, kann man sehr viel Natur sicher erleben. Ein guter Reiseführer ordnet diese natürlichen Gefahren noch in den Gesamtkontext ein – und oftmals ist die Autofahrt zum Strand deutlich gefährlicher als das Schwimmen im Meer.

Warnung vor Schlangen in einem Park in Australien (Lilydale Lake im Yarra Valley in der Nähe von Melbourne).

Am Problem vorbei Entwickeln

Made in Germany steht auch für vollkommen ausgereifte, technische High-End-Lösungen – für banale Probleme. Oftmals scheint es wichtiger, dass in einer Lösung für ein Problem viel Know-How und kostenschwere Investionen stecken, anstatt dem Motto Keep it Simple, Stupid! zu folgen – und Probleme an der Wurzel zu packen.

Warn-Apps statt Sirenen und solider Mobilfunktechnik

Mit dem Ende des Kalten Krieges sind in Deutschland nicht nur reihenweise Warnsirenen entfernt worden, sondern auch die Hinweise darauf, was die verschiedenen Warnungen bedeuten. Ironie des Schicksals: Man weiß noch nicht einmal, wie viele Sirenen es aktuell überhaupt gibt und ob oder wann diese im Hochwassergebiet ausgelöst worden sind. Jetzt zeigt sich, welche reale Bedeutung die letztes Jahr beim „Sirenenwarntag“ festgestellten Mängel praktisch bedeuten. Manuel Atug hat dazu auf Twitter einen ganzen Thread geschrieben, in dem er auch auf eine solide Mobilfunktechnik verweist, die jedes Mobiltelefon (auch Geräte aus der Ära vor der Smartphones) weltweit kann und ohne App auskommt: Cell Broadcast. Dabei wird einfach eine Warnmeldung an alle Telefone (Broadcast) in einer Funkzelle ausgegeben, die die Telefone direkt auf dem Display anzeigen – sogar im Sperrbildschirm. Da es ein Broadcast wie beim Rundfunk ist, werden die Nachrichten nicht individuell zugestellt, sondern einfach an alle, die erreicht werden.

Warn-Apps hingegen haben zusätzliche Anforderungen an die Telefone (Smartphone mit unterstützem Betriebssystem, mobiler Internetzugang) und die Nutzer (Standortfreigabe oder Konfiguration der Standorte) – klassisches Overengineering für ein sehr einfaches Problem.

Hochwasserschutz

… ist eine einfache wie effektive Möglichkeiten zu verhindern, dass aus Starkregen-Ereignissen Katastrophen werden. Und das weiß man auch nicht erst seit 20 Jahren, als der Hochwasserschutz im Baunatal bei Kassel Thema der Expo 2000 war, sondern im Grunde schon sehr viel länger – selbst im vom Hochwasser besonders betroffenen Ahrtal. So wird nicht nur im Wikipedia-Artikel über die Ahr von einer Renaturierung seit 1979 geschrieben, sondern auch von zwei markanten Hochwasser-Ereignissen zu Beginn des 19. sowie 20. Jahrhunderts. Mehr Details dazu sind in einem Interview der Riffreporter mit dem Biologen Wolfgang Büchs nachzulesen. Und Büchs erwähnt auch klassische Fehler in der Landschaftsgestaltung, die Hochwasser deutlich begünstigen: Flurbereinigung, Begradigung, Kanalisierung, Bodenversiegelung. Und diese vormaligen Flussräume sind es, die jetzt zum Teil wieder überflutet worden sind – die Ahr ist in ihr altes Flussbett zurückgekehrt.

Natürlich hätte man noch mehr Hochwasserschutz bauen können und es war nach der Flut 1910 auch geplant, allerdings hatte man nach dem Ersten Weltkrieg nur begrenzt Geld und der in der Nähe gelegene Nürburgring war als Symbol wichtiger … Vielleicht wird ja jetzt die Rechnung aufgemacht, was eine solche Katastrophe kostet und mit welchen Investitionen sie in Zukunft zu verhindern ist.