Nordhessische … Was können wir vom »Protestsommer 2006« lernen?

Abstract

Wie bringt man ein Anliegen erfolgreich in die Öffentlichkeit und auf die politische Agenda? Warum reichen Demonstrationen nicht aus und was ist dabei zu beachten? Ein (persönlicher) Rückblick auf den Protestsommer 2006 im Kontext des Spätsommers 2018 (und der Entwicklung davor).

Der Protestsommer 2006 in Hessen

Ende 2005, Anfang 2006 verkündete die damalige hessische Landesregierung den Plan in Hessen allgemeine Studiengebührenbeiträge einführen zu wollen. Nicht allein diese Tatsache, sondern auch die Ausgestaltung des Gesetzes, rief vielfältigen Protest an den Universitäten, den gymnasialen Oberstufen und der Opposition im hessischen Landtag hervor, der auch medienwirksam in die Öffentlichkeit getragen wurde. Während die Einführung des Hessischen Studienbeitragsgesetz' (HStuBeiG) selbst nicht verhindert werden konnte, wurden doch manch strittige Punkte entschärft. Allerdings hatte der Protest bis dahin schon so viel Fahrt aufgenommen, dass der damalige hessische Minister für Wissenschaft und Kunst nach der Legislaturperiode freiwillig aus der Landesregierung ausgeschieden und die CDU-Regierung abgewählt worden ist. Da sich keine Mehrheit für eine neue Regierung fand, blieb die bisherige kommissarisch im Amt. Trotzdem ergab sich eine Landtagsmehrheit, die nach einem Jahr die Studienbeiträge in Hessen wieder abschaffen konnte. Eine Normenkontrollklage gegen das HStuBeiG erreichte zwar das erste Mal in der hessischen Geschichte das erforderliche Quorum – es wurde deutlich übererfüllt – allerdings wies der Staatsgerichtshof diese zurück.

Wo auch immer ein relevantes Mitglied der Landesregierung erwartet wurde, waren die Studenten vor Ort um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen – so wie hier Anfang 2007 vor dem Kasseler Staatstheater, in dem sich der damalige Ministerpräsiden Roland Koch eine Wagner-Oper anschauen wollte.

Wie der Protest in die Öffentlichkeit getragen worden ist

Nachdem die Pläne zur Einführung allgemeiner Studienbeiträge bekannt geworden waren, berieten sich die Studentenvertreter (zumindest an der Uni Kassel), wie sie sich dazu positionieren (außer beim CDU-nahen RCDS stieß das Vorhaben auf Ablehnung) und wie sie ihre Position in die Öffentlichkeit einbringen. Dabei kristallisierten sich zwei Protestformen heraus, die man parallel und miteinander verwendete:

  1. öffentlichkeitswirksame Demonstrationen mit vielen Teilnehmern entlang zentraler Plätze und Verkehrsachsen
  2. fundierte Kritik an Studiengebühren und das Aufzeigen von Alternativen

Pressearbeit und Lobbying

So wurden die Demonstrationen verwendet um Aufmerksamkeit für das Thema und die eigenen Standpunkte zu schaffen. Es gab einen eigenen „Pressestab“ („AK Medien“), der zusammen mit der Studentenvertretung Ansprechpartner für die Medien war – auch direkt vor Ort auf den Demonstrationen – und gleichzeitig auch Agenda Setting betrieb. Ein großer Erfolg dabei dürfte gewesen sein, den Text Alternativen zur Hochschulfinanzierung unter dem Titel Studiengebühren müssen nicht sein Anfang Juni 2006 in der Frankfurter Rundschau auf der Seite FRplus unterzubringen. Dieses konstruktive Vorgehen erleichterte es auch auf dem Hessentag 2006 in Hessisch-Lichtenau an der öffentlichen Fraktionssitzung der CDU-Landtagsfraktion teilnehmen und mit ihnen über Studiengebühren im Allgemeinen sowie das HStuBeiG im Konkreten diskutieren können.

Daneben gab es als weiteren Kanal noch eine hochschulpolitische Radiosendung („Die ProtestWelle – Das Radio für freie Bildung“) im Freien Radio Kassel, in der vom Sommer bis November 2006 u. a. Interviews mit den bildungspolitischen Sprechern aller Landtagsfraktionen geführt und ausgestrahlt wurden.

Pressearbeit „on air“ während der Aufzeichnung einer Ausgabe der ProtestWelle – das Radio für freie Bildung im ehemaligen Funkhaus des Freien Radios Kassel in der Salzmann-Fabrik.

Nach der Verabschiedung des HStuBeiG im hessischen Landtag ist das bislang einzige erfolgreiche Quorum zum Einreichen einer Normenkontrollklage erreicht worden, wofür gut 41000 beglaubigte Unterschriften hessischer Wahlberechtigter notwendig waren. Die entsprechenden Formulare für die Unterstützungsunterschriften wurden in Hessen breit verteilt, bei Aktionen vor den Rathäusern, in Kneipen oder auf Demonstrationen. Natürlich wurde nicht nur unter den Studenten, sondern auch regional und überregional über das weitere Vorgehen informiert. Nachdem das Quorum deutlich übererfüllt worden war, ergab sich sogar die begründete Hoffnung auf einen Regierungswechsel in Hessen. Dieser blieb zwar aus, doch konnte die Landtagsmehrheit das HStuBeiG nach einem Jahr wieder abschaffen.

Demonstrationen

Wie oben schon angesprochen, waren die Demonstrationen ein zentraler Punkt um Öffentlichkeit für das Anliegen zu schaffen. Dazu fanden die Demonstrationen meist zur Feierabendzeit und entlang zentraler Verkehrsachsen statt um einen Großteil der Bevölkerung dann zu erreichen, wenn sie mehrheitlich nicht im Stress sind.

In Marburg und Frankfurt hatte man bereits sehen können, welche Außenwirkung die Eskalation des Protestes hat, weshalb in Kassel versucht worden ist die Demonstrationen möglichst friedlich durchzuführen. Dazu hielten die Veranstalter vom AStA auch während der Demonstration Kontakt zur Einsatzleitung der Polizei. Auf diesem Wege konnten angespannte Situationen verhindert bzw. zügig aufgelöst werden. Auch wenn manche Studenten aus dem linksextremen Spektrum anderer Meinung waren, war es wichtig, in den eingesetzten Polizisten keinen Feind zu sehen, sondern Menschen, deren Kinder vielleicht auch studieren möchten. Das führte dazu, dass bei so mancher Demonstration Polizisten gezielt nach den Formularen für die Unterstützungsunterschrift zur Normenkontrollklage fragten. Bis auf wenige Ausnahmen blieb es in Kassel friedlich, was das konstruktive Bild des Protestes unterstützte und so manche Türe öffnete, z. B. zur öffentlichen Fraktionssitzung der CDU (siehe oben) oder bei mehr oder weniger spontanen Aktionen.

Postpubertärer Humor (oder doch ein Zeichen): Ein kaputtes „Polizei“-Motorrad für Kinder vor der Salzmann-Fabrik, in der die Sendungen der ProtestWelle aufgezeichnet worden sind. In der Realität war man sehr froh, dass die Demonstrationen größtenteils friedlich verlaufen sind.

Außenwirkung

Es gab vor allem dann während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 Versuche durch Polizeitaktik Eskalationen hervorzurufen, bspw. durch das Auflösen der Versammlung mit Platzverweisen, stundenlanges Einkesseln von Gruppen und Verhaften der Teilnehmer oder Vorbeiführen des Demonstrationszuges an wenig gesicherten Baustellen. In dem Moment, in dem ein solches Anliegen von Gewalt überschattet wird, stehen nicht mehr die Inhalte, sondern nur noch die Krawalle im Vordergrund und das eigentliche Anliegen wird diskreditiert. Daher war es wichtig die Demonstrationen möglichst friedlich durchzuführen und sich nicht provozieren zu lassen. Es wurde später sogar berichtet, dass im Fall der Baustelle der Demoanmelder gegenüber der Polizei mit dem Ende der Veranstaltung gedroht hatte, sollte der Zug dort vorbeigeführt werden. Und im Fall einer Demo, die im Kessel und mit Platzverweisen aufgelöst worden ist, sorgte der wütende Bericht eines Teilnehmers für ein klärendes Gespräch zwischen Polizei und Studentenvertretung.

Ein Protest zu einem gesellschaftlichen Thema (von links) und dann auch noch gegen eine CDU-Regierung mobilisert natürlich nicht nur die Opposition im Landtag, sondern auch die „außerparlamentarische“ Opposition im linken Parteienspektrum. Aus diesen Reihen gab es Versuche den Protest für die eigene politische Agenda zu instrumentalisieren und zu vereinnahmen. So waren Mitglieder diverser Organisationen und Parteien an der Uni aktiv und es gab Versuche das eigene Banner medienwirksam an der Spitze des Demozuges unterzubringen. Nicht nur auf Grund der Kritik aus den eigenen (studentischen) Reihen, sondern auch um die Hoheit über die eigene Demo zu behalten, wurde das charakteristische gelbe Banner Für Solidarität und freie Bildung ganz vorne und damit in der Pole Position für die Pressefotografen platziert.

Insgesamt war also wichtig, stets das Zepter in der Hand zu behalten und für eine friedliche Demonstration einzustehen. Der politische Erfolg des Anliegens ist auch darauf zurückzuführen, dass eben keine „linken Chaoten durch die Straßen marodieren“.

Die Lektionen vom Protestsommer 2006

Diese Erfahrungen und gelernten Lektionen aus dem Protestsommer 2006 kamen in den letzten Jahres das erste Mal in der Diskussion mit Bekannten über Pegida und dann jetzt wieder in Diskussionen über die Demonstrationen von Pro Chemnitz und Rechtsextremen in Chemnitz wieder auf. In beiden Fällen – Pegida und Chemnitz – stößt man schnell auf Menschen, die sich zu Unrecht in eine bestimmte politische Ecke gestellt sehen. Und dann steht man dieser Erfahrung doch verwundert da und erklärt ihnen, dass

  • man nicht mit Extremisten demonstriert
  • jegliche Gewalt die komplette Demonstration diskreditiert und die Außenwirkung dominiert.

Mit anderen Worten: Wenn man mit seinem Anliegen in der Öffentlichkeit ernstgenommen werden möchte, reicht es nicht, irgendwem hinterherzulaufen, sondern den richtigen Leuten. Und im Zweifelsfall muss man sich eben von bestimmten Gruppierungen distanzieren, wenn man nicht mit ihnen identifiziert werden möchte. Wie im verlinkten Artikel schon steht:

Wenn man von den Linken (berechtigt) Distanzierung von Krawallmachern wie beim G20-Gipfel in Hamburg fordert, muss man die gleichen Maßstäbe an sich selbst legen und sich klar von Rechten oder Neonazis distanzieren.

Wenn abzusehen ist, dass auch Extremisten/Krawallmacher/Chaoten in der Stadt sind, muss man dafür sorgen, dass diese die eigene Demo nicht vereinnahmen bzw. wenn man eine eigene Demo separat verantstaltet, bietet es sich an Medienvertreter gezielt einzuladen. Man muss sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen.

Und dann – das geht aus diesem Artikel gut hervor – gibt es politische Partizipation nicht geschenkt bzw. „auf der Straße“. Ja, es ist Arbeit, es ist vor allem deutlich mehr als Meckern und auf „die da oben“ schimpfen. Aber Demokratie erfordert Mitarbeit und Freiheit muss nicht nur gelebt, sondern auch verteidigt werden. Nicht „Wutbürger“ sind gefragt, sondern Mutbürger. Das bedeutet auch die „Spielregeln“ von Politik und Journalismus zu akzeptieren und zu respektieren. Krakeelen, Beschimpfen oder Bedrohen sind übrigens keine dieser Spielregeln.