Nordhessische … Linke Narzissten und »die absolute Wahrheit«

Abstract

Vor vier Jahren gab es an dieser Stelle einen Text über die absolute Meinung von narzisstisch gestörten Wutbürgern. Jener Text damals bezieht sich auf Anhänger der AfD. Dieser Text heute bezieht sich auf linke Gruppendynamik in so genannten „sozialen Netzen“ – die sich leider nicht großartig vom bekannten Phänomen von Rechts unterscheidet. Diese Polarisierung mit dem moralischen Anspruch der „absoluten Wahrheit“ hat das Potenzial die freiheitlich-demokratische Grundordnung unserer aufgeklärten Gesellschaft zu sprengen.

Es war einmal …

Anno 1832 trafen sich 25000 bis 30000 Franzosen, Polen und Deutsche zum Hambacher Fest – einem historischen Ereignis der Demokratiebewegung in einem gemeinsamen Europa, zu einer Zeit, als selbst Deutschland noch kein Nationalstaat war. Sie forderten ein konförderiertes republikanisches Europa mit Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit und Gleichberechtigung für Frauen. — So wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf dem Hambacher Schloss zitiert.

Das Hambacher Schloss ist ein Symbol für bürgerliche Freiheitsrechte in einem geeinten Europa.

Status Quo

Diese republikanischen Freiheitsrechte sind die logische Fortsetzung der Aufklärung. Es hat lange bis nach dem Zweiten Weltkrieg gedauert, bis sich diese Rechte größtenteils in Gesetzen niedergeschlagen haben, so visionär war man ein Jahrhundert zuvor bereits. Und während diese Visionen immer noch nicht komplett realisiert worden sind, stehen sie bereits wieder unter Beschuss:

  • Auf der einen Seite glauben narzisstisch gestörte Wutbürger eine „absolute Meinung“ zu haben und wählen eine Partei, die hauptsächlich Ausreden für Dumme bietet. Diese Partei lehnt die freiheitliche, gleiche und brüderliche Gesellschaft ab und missbraucht die Symbole der Deutschen Bürgerlichen Revolution für plumpe Deutschtümmelei. In Krisensituationen zeigt sich zwar, dass sie keine Lösungen für echte Probleme hat, aber leider gab es davor genug Wähler, die ihr Zuspruch an der Wahlurne gegeben haben, so dass sie ein politischer Faktor ist. Mit einem „Flügel“ als „Mitte der Partei“ ist sie eine klare Bedrohung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland.
  • Auf der anderen Seite fühlen sich narzisstisch gestörte Social-Media-Linke moralisch im Besitz einer „absoluten Wahrheit“ und daher im Recht und der Pflicht die Welt entsprechend ihres moralischen Maßstabs zu verbessern. Da die Welt bis dato „schlecht“, also von Sexismus, Rassismus, Klassismus und etlichen anderen Ismen geprägt ist, ist daher jeglicher Widerspruch sexistisch, rassistisch oder anderweitig extremistisch und gehört ausgegrenzt. Das ist eine faktische Einschränkung der Freiheit zur Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs, denn: Plötzlich findet sich die Mitte als extremistisch attributiert wieder – in einem Umfeld von ursprünglich tendenziell linksliberal geprägten Plattformen, auf denen Extremisten Mehrheiten vorgaukeln und so Einfluss ausüben können. Die Mitte, die rechts der Linken steht, wird so als „rechtsextrem“ aus dem Feld gedrängt.
  • Diese Polarisierung kennt überdies nur noch „gut“ und „böse“, wer nicht dafür ist, ist dagegen. Die Zwischentöne sind keine Zustimmung und daher „böse“. Ein Diskurs, eine Debatte, gar Meinungsfindung und -bildung im Kompromiss sind damit nicht mehr möglich – und der Kompromiss ist eine Grundlage der Demokratie. Aber es gibt auf beiden Seiten schon einige, die daher demokratische Teilhabe nur noch für nicht-abweichende Subjekte propagieren.
Der Ende des 17. Jahrhunderts gesprengte Pulverturm des Heidelberger Schlosses.

Axiomatische „Beweisführung“ und die Filterblase

Der große Vorteil, wenn man im Besitz einer absoluten Meinung oder Wahrheit ist: man braucht nichts erklären, muss nichts beweisen, sondern kann seine absolute Meinung als Wahrheit kundtun. In diesem Sinne ist es dann keine Behauptung mehr, sondern ein Axiom. So lässt sich auch sehr bequem die Beweislast umkehren, wenn nicht mehr Behauptungen bewiesen, sondern widerlegt werden müssen bzw. wer es nicht glaubt, solle doch bitte selbst recherchieren, das Thema sei schon oft genug und ausführlich diskutiert worden. Wichtig dabei ist, dass das natürlich nur für das eigene Weltbild gilt – andere Menschen mit anderen Weltbildern und möglicherweise „absoluten Meinungen“ müssen diese selbstverständlich weiterhin belegen können, auch wenn man eigentlich gar nicht daran interessiert ist sein eigenes Weltbild in Frage zu stellen.

Wer jetzt glaubt diese Beobachtung schon einmal gemacht zu haben, übersieht die Hälfte: narzisstisch gestörte Social-Media-Nutzer verhalten sich so unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung.

Nachhaken bei Unklarheiten oder das Konfrontieren mit konträren Punkten können hingegen das eigene, moralisch überlegene Weltbild prinzipiell in Frage stellen und werden daher „Ungläubigen“ gegenüber ab einem gewissen Maße einfach abgeblockt. So blendet man Konträres aus, verzichtet auf Selbstreflexion und vergewissert sich selbst seiner Filterblase. Impulse, die den Horizont erweitern und so zu Fortschritt führen, haben es in solch einem Umfeld sehr schwer; im Grunde steht die absolute bzw. axiomatische Wahrheit einer neugierigen, aufgeklärten (Wissens-) Gesellschaft entgegen.

Diese Diskursverweigerung derjenigen, die sich im Besitz der absoluten Meinung wähnen, führt auch dazu, dass sie unter sich bleiben und Liberale sowie Zeitgenossen der gesellschaftlichen Mitte nicht ansprechen können. Denn hier glaubt man nicht an absolute Wahrheiten, sondern an den gleichberechtigen Austausch von Argumenten, Meinungsfindung und Kompromisse – letztlich Charakteristika einer freiheitlichen Demokratie.

Gerade bei den Linken, die gute Ansätze zur Verbesserung der Welt haben, ist der Glaube an die absolute Wahrheit, die eigene moralische Überlegenheit fatal. Sie führt nicht nur zum Ausschluss der Mehrheit, die im demokratischen Prozess nötig ist, sie verdeckt auch die eigene Doppelmoral, die die politischen Gegner genüsslich für ihre Agenda nutzen können. Während man die „Angriffe“ der politischen Gegner noch zur Selbstvergewisserung verwenden kann – Angriffe von Außen stärken das Gefüge nach Innen – macht sich die fehlende Mehrheit in der politischen Realität bemerkbar. Umso irritierender wird es, wenn die „gefühlte Mehrheit im Internet“ eine objektive Minderheit im Realen darstellt und die ganzen Shitstorms im Grunde nur laue Lüftchen sind.

Ein schönes Motiv im Wiener belvedere21 während der Ausstellung Der Wert der Freiheit – aus der Kunsthalle blickt man über die Exponate auf ein Instrument der Einschränkung von persönlicher Freiheit.

Aspekte von 1984 im Jahre 2020

Umso erfolgreicher erscheint es da, wenn man es schafft seine absolute Meinung in der Öffentlichkeit als absolute Wahrheit zu etablieren. Eine Idee dafür liefert George Orwells 1984, in dem beschrieben wird, wie sich Wahrheiten täglich ändern und dann „schon immer so gewesen sind“, während die Relikte und Verkünder der vorherigen Wahrheit schnell (aus der Öffentlichkeit) „getilgt“ werden.

Die so genannte Cancel Culture führt genau dazu, indem Symbole der vorherigen Wahrheit kurzer Hand aus der Öffentlichkeit entfernt werden – was allerdings nichts an der Historie ändert, die nachträglich schließlich nicht geändert werden kann. Das folgt eher dem Prinzip „aus den Augen, aus dem Sinn“ und behindert so eine konstruktive Aufarbeitung des Geschehenen, es ist also kontraproduktiv wenn es darum geht Bewusstsein für einen Sachverhalt zu schaffen.

„Gecancelt“ werden auch Aussagen, die zwar objektiv wahr sind und sogar der absoluten Wahrheit entsprechen, bloß „von den Falschen“ geäußert werden – die absolute Wahrheit erfordert 100%ige Zustimmung. Wer davon abweicht, der wird auch schon einmal nach zehn Tagen falsch eingeschätzt. Und das kann sogar passieren, wenn es um Wissenschaft geht und es die Deutsche Forschungsgemeinschaft ist, die hier vor einem Twitter-Shitstorm einknickt.

Fragen an die „Cancel Culture“

Damit ergibt sich abschließend eine spannende Frage: Wie gehen wir mit den Hinterlassenschaften „problematischer“ Wissenschaftler um, sprich ihren Theorien und vor allem Erkenntnissen? Dazu ein schönes Beispiel: Sir Isaac Newton verlor [1720] bei der Südsee-Spekulation 20.000 Pfund (heute etwa 3 Millionen Euro), nachdem er zuvor größere Gewinne gemacht hatte. Die Südsee-Spekulation oder auch Südseeblase war eine Spekulationsblase in der Ausbeutung der Südsee – exotische Produkte, Rohstoffe und Sklaven. Mit anderen Worten: Newton, der Erforscher von Optik und Gravitation, Erfinder der Differentialrechnung, hat und wollte von der Ausbeutung fremder Völker profitieren. Trotzdem ist seine Wissenschaft objektiv wahr.

Wie cancelt man einen solchen Kapitalisten und sein Werk?